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Soziologische Beobachtung 1

Decmber 5th, 2022

Article by Emil Reithinger

Photograph by Elena Dressler

Das ist mein erster Text, also musst du nachsichtig sein. Genau Du. Oder Sie? Sieh es mir
nach, wenn ich uns Duze. Das ist einfach einfacher zu schreiben. Es ist ja mein erster Text.
Gemeint bist auf jeden Fall Du. Oder Sie, könntest du dir ja auch einfach denken.


Mein erster Text auf jeden Fall. Aufregend kann ich dir sagen. Für ein Publikum schreiben,
habe ich noch nicht gemacht. Meine Notizbücher sind voll mit guten Ideen, Texten, die noch
geschrieben werden müssen, Texten, die schon geschrieben sind, und Texten die quasi, also
in meinem Kopf, schon geschrieben sind. Warum für ein Publikum schreiben, habe ich mich
öfter gefragt? Ich meine, wer soll meine Texte lesen? Ja klar Du, weiterlesen, bitte. Aber
warum solltest du weiterlesen? Also warum ist das hier für dich interessant? Also, es ist so:
Ich will dir was sagen. Es soll sich wenigstens lohnen für dich. Ich will was sagen und ich halte
es auch für so wichtig, dass ich mich traue hier darüber zu schreiben. Ich denke, Du kannst
mir ruhig eine Chance geben. Übrigens ist das auch ganzschön furchteinflößend so zu
schreiben. Also jetzt am Tag der Deadline, geht mir die Düse, wer diesen Text hier liest und
was du am Ende dazu sagst. Aber ich habe mir vorgenommen zu schreiben. Ich lese seit
einigen Jahren immer wieder gute Texte, die mich inspiriert haben. Klar ist das für einen Teil
in mir auch mein großer Durchbruch, aber ein anderer Teil, im Moment ein ziemlich großer,
ist grade ziemlich wortkarg. Neulich habe ich davon geträumt, dass ich schreiben will.
Wörter durch meine Finger, durch Tastatur und Stift fließen lassen und festhalten. Prosa,
sagt man, glaube ich. Einfach so, zur Unterhaltung, aber natürlich auch mit einer Botschaft.
Mein Motiv zu schreiben könnte man also sagen, ist individuell. Ganz schön egoistisch
könnte man sagen. Hier schreibe ich, weil ich ja irgendwann anfangen muss, und weil ich dir
was mitteilen möchte. Aber auch wenn mir das ganze zumindest zwischendurch immer
wieder Spaß macht, fühlt es sich grade nach einem großen Schritt an. Aber für den
Durchbruch natürlich. Der ist auch klar mein Motiv. Erfolgreich will ich werden. Gegen Geld
verdienen hätte ich natürlich auch nichts. Als nur für den Fall, dass Du jemanden kennst,
oder jemanden kennst, der oder die jemanden kennt. Du darfst mich gerne weiterleiten,
denn über jede Starthilfe bin ich sehr dankbar.

 

Wenn ich darüber nachdenke, was mich antreibt zu schreiben, dann komme ich schnell zu
der Frage, was Menschen allgemein antreibt. Oder eher was bewegt Menschen? Ich meine
physisch, was bewegt Menschen? Große Fragen für einen ersten Text. Menschen um mich
herum bewegen sich jeden Tag, routiniert in ihren Abläufen. Menschen in der Stadt,
Menschen auf dem Land? Kinder, Jugendliche und Erwachsene? Warum morgens aufstehen
und zur Arbeit gehen, warum aufstehen, wenn man auch liegen bleiben kann? Meine
Kommilitoninnen kommen mit einer unfassbaren Zuverlässigkeit jeden Morgen in meine
Seminare. Ganz regelmäßig stehen sie gegen Mittag in der Schlange der Mensa. Routiniert
wird sich danach gefunden und Kaffee getrunken und routiniert wird sich abends am Kiosk
zum Bier trinken getroffen. Wie sieht es bei dir aus? Kannst du beantworten was dich
bewegt, also physisch? Aber auch psychisch? Ich frage mich, sind Menschen angetrieben von
ihren Trieben oder sind sie mehr getrieben von ihren Trieben. Also werden sie motiviert
etwas zu tun, weil innere Triebe sie antreiben? Sind es die inneren Triebe, wenn es sie denn
gibt, die uns zu Sachen motivieren? Oder sind es die inneren Triebe, denen wir gerecht
werden müssen? Die uns von innen heraus, vor uns hertreiben? Oder vergleichen sich die

Menschen? Links und rechts gucken was die anderen machen. Welche Rolle spielt
Gesellschaft? Werde ich in anderen Köpfen verglichen? Denken Leute um mich herum: „So
will ich sein“, oder auch „so will ich lieber nicht sein“, während ich sie angucke und denke:
„Wow sind die cool“! Oder auch, „so will ich nicht sein“. Nehmen Menschen Rollen an? Sehe
ich in mir einen pseudo-intellektuellen Studierenden, bei dem einfach in der
Rollenbeschreibung steht, pseudo-kluge Texte zu schreiben? Also ich meine es geht nicht
darum, sich mit anderen zu vergleichen. Zumindest sagt man das immer wieder.

 

Für Ratschläge wie „Leg deinen Fokus auf dich“, „du bist für dein eigenes Glück
verantwortlich“ werfe ich jedes Mal einen Euro ins Phrasenschwein. Ja ich versuche es! Aber
ich muss auch ehrlich sagen mein alter Mitbewohner hat für eine Kollektiv geschrieben und
das hat mich ziemlich beeindruckt. Nicht nur er hat dort geschrieben, dass Kollektiv bestand
aus ganz vielen kreativen Menschen, die immer und immer wieder unglaubliche Texte
produziert haben. Als ich meinem Umfeld davon erzählt habe, haben mich alle angefeuert
und motiviert zu schreiben. Obwohl sie nicht einmal wussten, was oder worüber ich
schreibe. Spätestens als ich der Freundin, die diesen Text veröffentlicht, von dem Text
erzählt habe, und sie mir eine Deadline gegeben hat, da war ich in eine Situation
hineingestolpert, die nicht mehr richtig zulässt, dass ich diese Zeilen hier einfach lösche oder
nur für mich schreibe. Wenn ich in der Bibliothek sitze und alle gespannt auf ihre Bildschirme
starren, und Tasten schwirren, dann ist es fast unmöglich nicht auch zu schreiben. Meine
Situation ist unglaublich und unglaublich belastend. Um zu beantworten, was mich antreibt,
könnte man auch meine Situation untersuchen. Beweg- oder Schreib-gründe in der Situation
suchen und finden.

 

Eine letzte Perspektive fragt danach warum überhaupt schreiben. Stell dir doch vor eine
Zeitung würde nicht aus Blättern mit Texten bestehen, sondern aus einem Register mit
gesprochenen Texten. Vielleicht könnten Nachrichten auch in Lieder und Musik verpackt
sein, um sie zu vermitteln? Stell dir vor wir würden nicht miteinander sprechen, oder andere
Schriftzeichen verwenden. Dass ich auf deutsch schreibe, liegt nur daran, dass ich damit
aufgewachsen bin. Dass ich lateinische Schriftzeichen verwende, liegt nur daran, dass ich sie
Jahre lang, Tag für Tag immer wieder gelesen und geschrieben, kurz internalisiert habe. Das
Schreiben als Mittel ist unbestritten eine Kulturform, die Jahrhunderte zurück reicht und sich
ziemlich bewährt hat. Das ich einen Text schreibe, scheint so selbstverständlich wie die
Bierschlange vor dem Kiosk am Abend. Alle wissen, wie es funktioniert, ohne, dass jemals
spezifische Regeln aufgestellt wurden. Herdenintelligenz vielleicht aber irgendwie auch
strukturell. Und es ist noch mehr als das. Nicht nur, dass ich schreibe, sondern auch wo. In
der Uni, zu Hause. Ich weiss, dass ich den Computer hochfahren und die Tasten spielen
lassen muss, damit dieser Text wächst. Überhaupt gehört der Computer so
selbstverständlich zu unserem Alltag, dass wir ihn uns nicht mehr ohne ihn vorstellen
können. Aber dass es ihn gibt, lässt uns auch für ihn leben. Selbstverständlich achten wir
darauf, dass der Laptop immer geladen ist, dass er nicht hinfällt und immer in einem guten
Case transportiert wird. Wir halten ihn auf den neuesten Stand und installieren Updates,
theoretisch zumindest, sodass er immer zuverlässig läuft. Und wenn er dann nicht mehr
läuft, ist das nur selten keine Katastrophe. Ich schreibe auch, weil die Soziologen vor langer
Zeit damit angefangen haben, ihre Erkenntnisse in Text festzuhalten und Soziologinnen nie
auf die Idee gekommen sind eine andere Kulturtechnik dafür zu verwenden. Es ist doch
bemerkenswert, wie Strukturen unser Bewegen prägen.

 

Die Frage nach dem Antrieb der Menschen ist eine große, der ich mich nicht anmaßen will
sie zu stellen, geschweige denn zu beantworten. Das Leben allgemein ist vielleicht zu
kompliziert und darin schön es (nicht) zu verstehen. Trotzdem fragt man sich doch immer
wieder warum? Warum verhalten sich alle so wie sie sich verhalten? Die wissenschaftliche
Disziplin der Soziologie sucht immer wieder Ansätze, auf kleinerer Ebene, oder auf größerer
Ebene. Methodologischen Individualismus wird es genannt, wenn man nach individuellen
Motiven sucht. Methodologischer Situationismus wenn man nach, Situationsbedingten
Beweggründen und Mustern sucht. Und methodologischen Holismus nennt man es, wenn
man nach zu Grunde liegenden Strukturen und Normen schaut. Dieses Ent- und Aufdecken
begeistert mich. Und das will ich gerne mit dir teilen. Vielleicht hast du auch jemanden in
deinem Umfeld der Gesellschaftswissenschaften studiert und auf die Frage, was sie damit
werden will, müde antwortet, - Taxifahrerin, ist ja klar. Aber auch wenn wir nicht den
technischen Kram entwickeln und nichts Greifbares dabei rumkommt, so schaffen wir
Wissen darüber, wie unsere Gesellschaft funktioniert. Mit Sicherheit werden wir sie nie
erklären können, aber die Ansätze dahinter sind so spannend, dass auch du dich immer
wieder damit beschäftigst. Individuelle, situationistische oder holistische Erklärungen und
Strukturen zu finden, die Menschen bewegen ist Soziologie und ob du willst oder nicht es
beschäftigt dich jeden Tag. Wenn du mehr über ein konkretes Muster lernen willst – warum
nicht einfach mal fallen lassen und abtauchen in die Welt von soziologischen Texten? Wenn
du dir die Zeit dafür nimmst, es lohnt sich!

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